Die besondere Bedeutung des Heilpädagogischen Reitens liegt im ganzheitlichen Ansatz, der individuell sowohl den emotionalen, sozialen, motorischen, kognitiven und kreativen Bereich des einzelnen Menschen fördert.
Emotionaler Aspekt
Das Pferd als Lebewesen wird beim Heilpädagogischen Reiten über alle Sinne wahrgenommen. Dabei kann das Pferd die Grundstimmung des Menschen positiv beeinflussen.
Es befriedigt stark das Bedürfnis nach Zuwendung und Angenommen sein, so dass das verschüttete Urvertrauen behutsam (wieder) aufgebaut wird. Später können die Art der Kontaktaufnahme und der Umgang mit dem Pferd auch auf Mitmenschen übertragen werden.
Die emotionale Kontaktaufnahme zum Pferd kann nicht generell vorausgesetzt, sondern muss manchmal erst geweckt werden. Die Anziehungskraft des Pferdes bewirkt dabei eine hohe Motivation. Der Reitpädagoge darf dabei nichts erzwingen und muss behutsam und flexibel vorgehen.
Wichtig ist, dass möglichst viele Handlungen direkt über das Pferd erfolgen und der Reitpädagoge bewusst nur die Mittlerrolle, nicht aber die Führungsrolle übernimmt. Durch ein (Nach-) befriedigen von Grundbedürfnissen wird der Klient zufriedener, sein Selbstwertgefühl wird gesteigert. Er ist in der Lage, sich Ängste einzugestehen und in optimaler Weise zu überwinden.
Sozialer Aspekt
Beim Heilpädagogischen Reiten geschieht ein wechselseitiger Austausch durch Impulse zwischen Reitpädagoge, Klient und Pferd. Es muss für alle Drei eine Bereicherung und Freude sein, damit überhaupt eine heilende Wirkung erzielt werden kann.
Die Notwendigkeit, für das Pferd Verantwortung zu übernehmen (Pflege, Misten, Füttern) ist für den Klienten verständlich und akzeptabel.
Das Verantwortungsbewusstsein, auch gegenüber Mitmenschen, wird dadurch geweckt. Der verantwortungsvolle, liebevolle Umgang der Klienten mit dem Pferd überträgt sich auch auf den zwischenmenschlichen Umgang untereinander.
So ist eine Heilpädagogische Reitgruppe auch einer ständig wechselnden Dynamik unterworfen, die dem einzelnen Kind immer wieder neue Anstöße gibt. Um mit dem Pferd in Einklang zu kommen, ist großes Einfühlungsvermögen, Sicherheit, Anpassungsfähigkeit, aber auch Durchsetzungsvermögen nötig. Das Pferd vermittelt dem Klienten schon von sich aus durch seinen Aufforderungscharakter, diese Fähigkeiten zu entwickeln. So sind Erfolg und Misserfolg des eigenen Handelns sofort an den Reaktionen des Pferdes erkennbar und reflektierbar.
Das Aufbauen und Erleben von Freundschaft wird möglich und dabei Rücksichtnahme erlernt. Der Klient kann vertrauen zum Pferd und im nächsten Schritt zum Mitmenschen aufbauen. Er lernt zu helfen beziehungsweise Hilfe anzunehmen. Er wird erleben, selbst etwas zu wollen und das auch adäquat zu formulieren. Außerdem wird sein Durchhaltevermögen gesteigert und er lernt, angemessen zu reagieren.
Motorischer Aspekt
Da das Gleichgewichtsempfinden gestärkt wird, können sich Verkrampfungen seelischer und körperlicher Art lösen. Es kommt zu einer Verbesserung der äußeren sowie der inneren Balance. Durch das somit verbesserte Körperbewusstsein kann sich das ganze Selbstbewusstsein positiv verändern.
Durch die intensiven Bewegungen des Pferdekörpers und den nötigen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung werden starke psychische und physische Reize gegeben. Somit wird auch die körperliche Wahrnehmungsfähigkeit entscheidend
gefördert.
Bei körperlichen Defiziten ist das Pferd ein außerordentliches Medium zur Entwicklung kompensatorischer Möglichkeiten.
Es werden – vornehmlich in der Gangart „Schritt“ – dreidimensionale Schwingungsimpulse (Rotation, vorwärts/abwärts, Schub nach vorne) ausgenutzt, die sich über den Pferderücken auf das Becken des Klienten übertragen. Diese Bewegung und Schwingung entspricht dem Gang des Menschen. Dadurch bekommen z.B. gehbehinderte Menschen passiv das Gefühl der Gehfähigkeit auf dem Pferd.
Mit jedem Schritt des Pferdes werden die Hüft- und die Rückenmuskulatur angeregt und gestärkt. Außerdem ist diese Therapieform ein gutes Training für die Rumpfmuskulatur.
Die Wirbelsäule wird beweglicher, Gleichgewicht und Koordination werden geschult, die Atmung erleichtert. Dadurch wird eine Verbesserung der spezifischen Beweglichkeit und Geschicklichkeit erzielt. Durch das Einfühlen in die Bewegung des Pferdes wird es dem Klienten nach einiger Zeit gelingen, sich zu entspannen und dem Bewegungsablauf des Pferdes anzupassen (Losgelassenheit).
Kognitiver Aspekt
Rund um das Pferd gibt es ein unerschöpfliches Fachwissen von den einfachsten primären Voraussetzungen bis hin zu komplexen Zusammenhängen (Fütterung, Umgang mit Reitzubehör, Verhaltenserforschung und Einwirken auf das Pferd). Je höher das Selbstbewusstsein des Klienten im Laufe der Therapie steigt, umso größer werden auch sein Wissensdurst und der Wunsch nach Unabhängigkeit im Umgang mit dem Pferd. Durch die verschiedenen Handlungsabläufe, die der Klient während der Therapie erlernt, wird seine Merkfähigkeit gesteigert und damit sein Horizont erweitert.
Er lernt Zusammenhänge zu erkennen, diese zu verstehen und im letzen Schritt umzusetzen. Vielfach können negative Fixierungen des Patienten auf sich selbst oder auf eigene „Störungen“ und Probleme durch die notwendige Konzentration auf das Geschehen „Reiten“ gelöst werden.
Hinzu kommt, dass der Klient lernt, sich selbst in seiner eigenen Leistungsfähigkeit zu vertrauen. Die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit wird ohne Leistungsdruck und auf natürliche Art gesteigert.
Die Orientierung am Pferd und an seiner Umwelt die dadurch resultiert, kann der Klient relativ schnell auch in anderen Kontexten umsetzen.
Die rhythmische Bewegung des Pferdes ermöglicht es dem Klienten, seine Sprachmelodie zu verfeinern und so zu einer verbesserten Artikulation zu kommen. Das Pferd stimuliert ihn außerdem, sich sprachlich mit ihm auseinanderzusetzen, indem der Klient Stimmhilfen an das Pferd weitergibt.